Page 44 - divemaster Ausgabe 114 - Okt/Nov/Dez 2022
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archäologie








































                           Unzählige zerbrochene Amphorenstücke liegen           Nachdem er geblendet wurde, wirft der einäugi-
                               noch heute an den Hängen der Bucht von             ge Zyklop Polyphem wütend Felsbrocken nach
                           Tsoukalia. Dort stand in der Antike eine Fabrika-     Odysseus und seinen Gefährten. Ölgemälde des
                            tionsstätte, die Amphoren für den Weinexport            Schweizer Malers Arnold Böcklin von 1896.
                                                    herstellte.


                     feste einerseits geordnet und zivilisiert ablaufen, ande-  OPFERGABEN UND TRINKWETTKÄMPFE
                     rerseits aber auch in Exzesse ausarten. Es gibt Berich-  Wein war eine der am häufigsten verwendeten Opfergaben. Die Trank-
                     te über das Zerreißen von Tieren, Essen von rohem   spende, also das Opfern von Flüssigkeiten wie Öl, Milch, Honig oder eben
                     Fleisch und ritueller Geißelung. Und Wein war natür-  Wein im Rahmen einer religiösen Handlung, war im antiken Kultbetrieb
                     lich ein unverzichtbarer Bestandteil dieser Feste. Der   fest verankert. Der Ruf „Spende! Spende!“ war bei jeder Opferzeremonie
                     Rausch spendete den Menschen nicht nur Freude und   zu hören. Und immer, bevor es zu militärische Operationen kam, holte
                     ein paar unbeschwerte Stunden, in denen sie den All-  man sich die Unterstützung der Götter durch entsprechende Opfer. So
                     tag vergessen konnten. Die Feiernden konnten vor al-  auch beim Aufbruch der athenischen Flotte nach Sizilien im Sommer 415
                     lem das Wirken ihres Gottes unmittelbar an sich spü-  v. Chr., den der berühmte Geschichtsschreiber Thukydides ausführlich be-
                     ren. Betrunken vom Wein zu sein, bedeutete ja nichts   schreibt: „Als dann die Schiffe bemannt waren und alles endlich verladen
                     anderes, als vom Gott des Weines erfüllt zu sein. In   war, womit sie in See stechen wollten, wurde mit einem Trompetensignal
                     Kombination mit Musik, Tanz und dem Gemein-  Ruhe geboten, dann verrichteten sie die vor dem Auslaufen üblichen Ge-
                     schaftserlebnis versetzten sie sich in einen Zustand, in   bete, nicht auf jedem Schiff getrennt, sondern alle zusammen nach den
                     dem sie Dionysos ganz nah waren. Das Getränk muss-  Worten eines Herolds, in Krügen mischten sie Wein das ganze Heer ent-
                     te ihnen dabei wie ein Wundermittel vorgekommen   lang und aus goldenen und silbernen Schalen brachten Schiffssoldaten
                     sein, das ihnen half, die Bürde des Alltags zu verges-  und Trierarchen Trankopfer dar.“ In diesem Fall wurde der Wein leider
                     sen. Doch niemand musste einem Dionysoskult an-  vergeblich gespendet. Die sizilische Expedition sollte für die Athener in
                     gehören, um Wein zu trinken. Denn anders als in den   einer militärischen Katastrophe enden. Die Götter konnten halt nicht im-
                     frühen Hochkulturen Mesopotamiens oder Ägyptens,
                     wo Wein nicht jeder Gesellschaftsschicht zugänglich
                     war, war er in Griechenland Allgemeingut. Der Wein-
                     gott kannte da keine Unterschiede. Er war der Freund
                     aller Menschen, vom einfachen Bauern bis hin zu
                     Dichtern, Denkern und Königen.




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