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WEIN- UND TRINKKULTUR DER ALTEN GRIECHEN
           Die Griechen sahen im Rausch grundsätzlich nichts Schlechtes, war er
           doch die natürliche Folge des Weinkonsums und wie das Getränk selbst
           ein göttliches Geschenk. Getrunken wurde griechischer Wein immer mit
           Wasser verdünnt. Selbst die teuersten und edelsten Tropfen wurden quasi
           als Mischgetränk zu sich genommen. Was vielen heutigen Weinkennern
           oder solchen, die sich dafür halten, vermutlich die Trinklaune verderben
           würde, war für die Griechen Ausdruck zivilisierter Lebensweise. Mehr
           noch: Unverdünnten Wein zu trinken galt als barbarisch, anstößig und
           unkultiviert. Das gleiche galt im Übrigen für Bier, dem sie und auch die
           Römer nichts abgewinnen konnten. Nur einer konnte den Rebensaft un-
           verdünnt trinken, ohne seine schädliche Wirkung fürchten zu müssen:
           Dionysos. Bei den Menschen hingegen führte der Konsum zu starken
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           Schmerzen und Wahnsinn. Der Schriftsteller Plutarch berichtet, dass die
           Spartaner ihre Neugeborenen mit unvermischtem Wein statt mit Wasser
           badeten, um so ihre Stärke zu testen.
           Für das Mischverhältnis gab es offenbar keine festen Regeln. Es hing
           von den Vorlieben des Trinkenden, von der Stärke des Weins und vom
           Anlass ab. Gängig waren 3:1, wenn man es etwas kräftiger haben wollte
           5:2 und wer nur seinen Durst stillen wollte, fügte einfach mehr Wasser
           hinzu. Durch verschiedenste Zusätze versuchten die Winzer, ihre Weine
           geschmacklich zu verändern. Um eine besonderes ausgeprägte Note zu
           erzielen, wurden Aromastoffe und Kräuter wie Wermut, Zimt, Thymian,
           Safran, Rosenblätter, Myrrhe und Pfeffer verwendet. Griechische Weine
           müssen ein sehr intensives Aroma verströmt haben, das oft mit Blumen-  1992 wurde auf Alonissos der erste Meeres-National-
           duft verglichen wurde.                                park Griechenlands eröffnet. Mit einer Größe von
                                                                 2.220 Quadratkilometern gehört er zu den größten
           Wichtiges Qualitätsmerkmal war das Alter eines Weins. Üblicherweise   derartigen Schutzgebieten Europas.
           ließ man gute Weine sechs bis sieben Jahre reifen. Ärzte verordneten Wein
           nicht nur als Heiltrank, durch seine antiseptische Wirkung war er auch
           zur Behandlung von Wunden geeignet. Und offensichtlich gab man ab
           und an auch Pferden und Rindern Wein, um sie zu heilen oder zu stärken.   Die Vielfalt seiner gut 100 Beinamen zeigt die vielen
           Eine der sonderbarsten Erscheinungen der griechischen Kultur war ohne   Bereiche, über die sich die Macht des Gottes erstreck-
           Frage das Symposion; das ritualisierte und reglementierte Trinkgelage   te. Er war ein mächtiger Vegetations- und Fruchtbar-
           im Kreise kultivierter Männer. Aus der Bedeutung für gesellige Treffen   keitsgott. Der Gott der Maske und des Theaters und
           hat sich später der Begriff Symposium für wissenschaftliche Konferen-  Quelle dichterischer Inspiration. Dionysos war nicht
           zen entwickelt. Eine ganz andere Welt hingegen waren die öffentlichen   nur der untypischste, sondern auch der menschlichste
           Schankstuben, die Kapeleia. Hier trafen sich die einfachen Menschen, um   unter den griechischen Göttern. Seine Mutter, Semele,
           zu essen, zu trinken, sich zu unterhalten und mit Spielen die Zeit zu ver-  war eine Sterbliche. Sein Vater war niemand geringe-
           treiben. Trotz aller Unterschiede zwischen Edelbesäufnis und einfacher   res als Zeus, der oberste und mächtigste olympische
           Taverne verband das Symposion und das Kapeleion eine Gemeinsamkeit:   Gott in der griechischen Mythologie. Die Wurzeln des
           Beide waren Orte der Geselligkeit. Und Geselligkeit war ein Grundpfeiler   Dionysos-Kults lassen sich heute bis in die minoisch-
           der griechischen Trinkkultur.                         mykenische Zeit im 2. Jahrtausend v. Chr. zurückver-
                                                                 folgen. Darstellungen des Dionysos sind seit ca. 580
           DIONYSOS – DER GOTT DES WEINS                         v. Chr. sicher nachzuweisen. Im antiken Griechen-
           Kein Gott wurde in der Antike mehr verehrt, öfter angerufen und häufiger   land war der Dionysoskult weit verbreitet. Was dort
           dargestellt als Dionysos. Er war der Gott des Weins und des Rausches.   geschah, wissen wir nicht genau. Zumindest kleine
           Einst schenkte er den Menschen die Rebe und zeigte ihnen die Kunst des   Einblicke bekommen wir aber durch Bilder auf Vasen
           Weinanbaus und der Weinherstellung. Und Wein war das Medium, durch   und zeitgenössische Berichte. So konnten Dionysos-
           das er seine Kräfte entfalten konnte. Anders gesagt: Dionysos war der
           Wein. Wahn, Ekstase und Raserei in all ihren Erscheinungsformen gehör-
           ten genauso zu ihm wie seine vielen Beinamen, die seine Vielschichtigkeit
           beschrieben. Er war der Weinhüter, Rufer zu frohem Gelage, Zechbruder,
           Befreier von Kummer und Sorgen, Krachmacher, Wortbrecher, Nacht-
           schwärmer, Speerwerfer, Schutzgott der Herden und Brecher der Herzen.




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