GEISTERSCHIFFE Eine Reise zu den Wracks der Ostsee

Großformatig und schwer liegt dieser Sachbildband besser auf einem
Tisch oder Lesepult als auf dem Schoß. Großformatig, teilweise die
ganze doppelseitige Buchbreite erfassend, ziehen den Betrachter die
bewegenden Aufnahmen der dokumentierten Wracks in den Bann.
Manchen Wracks ist nur eine Doppelseite gewidmet, andere wie zum
Beispiel das der Mars oder der Aachen bekamen ein mehrseitiges,
umfassendes Portfolio. Jonas Dahm, dem Fotografen ist es dabei gelungen
einfühlsame Porträts der untergegangenen Schiffe zu schaffen.
Im fahlen Grün der Ostsee kontrastiert durch das Licht der Unterwasserlampen
präsentiert Jonas Dahm die Panoramen gleichen Außenaufnahmen
der Wracks. Meist ist in diesen Bildern ein Taucher
ins rechte Licht gerückt ein sinnvoller Größenmaßstab, der gleichzeitig
der Aufnahme räumliche Tiefe verleiht. Manchmal erheben sich
die fast vollständigen Schiffskörper noch stolz über dem Grund, als
wäre nichts geschehen. Bei anderen zeugt das Chaos von gebrochenen
Planken und zerborstenen Schiffsrümpfen von der Heftigkeit des katastrophalen
Untergangs. Dort wo der Fotograf das Detail hervorhebt
oder das Innere des Wracks sichtbar werden lässt, ist es ihm gelungen
das allgegenwärtige Grün der umgebenden Ostsee aufnahmespezifisch
durch das Rotbraun des Rosts der stählernen Wrackteile und
der eisernen Fracht oder durch das eher ockrige Braun bis Schwarzbraun
der gewässerten Holzteile zu verdrängen. Dies schafft in eisiger
Kälte der Ostsee scheinbare Wärme und damit einfühlsame Nähe.
Hervorgehobenen Instrumenten und mitversunkenen Uhren möchte
man das Geheimnis des letzten Standes oder der letzten Zeitangabe
entlocken. Einrichtungsgegenstände wie Petroleumlampen stehen
säuberlich in einem Regal, als wären sie gerade aufgeräumt worden.
An Schreibtischen möchte man Platz nehmen, Schubladen durchsuchen,
durch Gänge gehen und hinter verschlossene Türen schauen.
Lediglich die sich langsam wie ein Leichentuch senkenden Sedimente
und der sich bildende Mulm erinnern an die wässrige Umgebung erzwingen
die Rückkehr in die Realität.
Jedem der 53 ausgewählten Wracks ist ein kurzes charakterisierendes
Portfolio vorangestellt, womit auch der fotografische Schwerpunkt
dieses Buches hervorgehoben wird. Unterstützt wird diese Präsentation
durch das große Querformat, das diesen breitflächigen Motiven
gerecht wird.
Carl Douglas, Historiker und ebenfalls leidenschaftlicher Taucher, hat
die Texte zu den bis zu 110 Meter tief gelegenen Wracks verfasst. Er
schildert, soweit bekannt, die Besonderheiten des Untergangs und der
Ladung. Sein besonderer Augenmerk gilt der historischen Bedeutung
des Schiffs aber auch des hinterbliebenen Wracks. Er beschreibt ergänzend
die Lage und den zum Aufnahmezeitpunkt vorgefundenen
Zustand des Wracks. Das aktuelle Umfeld des Fundorts, die Meeressituation
und vorherrschende Strömungen sind ihm ebenso wichtig
wie die persönliche Empfindungen, Beobachtungen und Eindrücke,
die ihn beim Betauchen dieser historischen Zeitkapseln bewegten.
Schon im Vorwort verweisen die Autoren auf die besondere Zurückhaltung,
die beim Betauchen von Wracks zu gewährleisten ist. Verbergen
sich doch hinter jedem Untergang auch menschliche Schicksale,
die von allen, die Wracks betauchen pietätvoll berücksichtigt werden
müssen. Diese Schicksale und das Leid der Betroffenen begleiten jeden
Tauchgang.
Mehr als 400 Wracks haben Jonas Dahm und Carl Douglas schon
lokalisiert und die meisten davon betaucht. In diesem Band präsentieren
sie die ihrer Meinung nach interessantesten Funde. Da die
Menschen und die Geschichten der Schiffe und ihrer Untergänge im
Vordergrund stehen, werden alle Wracks neutral und ohne nationale
oder politische Betonung und Bewertung vorgestellt. Diesem Respekt
vor den nassen Grabstätten ist auch geschuldet, dass trotz vieler Funde menschlicher Skelettreste nur wenige davon in den Bildern
zu finden sind. Solche Funde sind nicht der Sensationslust dienend,
sondern sollen darauf verweisen, dass es Gedenkstätten und keine
massentouristische Ziele sind. Wobei Letzteres schon wegen der Fähigkeiten
zum Technischen Tauchen bei den tiefer gelegenen Wracks
ausgeschlossen werden kann. Dass die Entnahme von Fundstücken
verboten ist, versteht sich nicht nur von selbst, sondern ist auch in
den verschiedensten Anrainerstaaten gesetzlich geregelt und auch in
den Vorgaben des „ Underwaterheritage of Europe“ festgehalten. Ausnahmen
ergeben sich bei der umsichtigen Entfernung von Geisternetzen,
die eine Gefahr für die Fauna und die Umwelt sind und auch
die Wracks selber weiter schädigen können. Dieser außergewöhnliche
Sachbildband ist in seiner Auswahl der vorgestellten Wracks das Ergebnis
einer mehr als zwei Jahrzehnte umfassenden Arbeit, zu dem
man allen an der Produktion Beteiligten gratulieren kann. Er sollte
in keinem Bücherschrank derer fehlen, die sich für die Schifffahrtsgeschichte
interessieren oder sogar selbst Wracks betauchen. Die hervorragende UW-Fotografie ist ein Meisterstück, an dem sich UWFotografen orientieren können.

Jonas Dahm, Carl Douglas: Geisterschiffe – Eine Reise zu den Wracks der Ostsee,
Malik 2022. Hardcover, 268 Seiten, durchgängig farbig, 32,8 x 3,7 x 24,7 cm.
€ 45,00 ISBN 978-3890295732 Keine Fremdwerbung

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