Page 36 - divemaster Ausgabe 115-JanFebMrz23-Testlesen
P. 36

medizin

        DER FALL
        Am 18. September 2012 erreichte die Bibby
        Topaz ihr Ziel, ein Ölfeld in der Nordsee, 200
        Kilometer östlich von Aberdeen. Das dyna-
        mische Positionierungssystem (DP) wurde
        aktiviert, um die Topaz unmittelbar über
        der Arbeitsstelle, einer Stahlschablone in 90
        Meter Tiefe, zu halten. Inzwischen hatte der
        Wind sieben Beaufort erreicht, und die Wel-
        len hatten eine Höhe von vier Meter. Diese
        und die folgenden Daten sind in einer Re-
        konstruktion des Vorfalls aufgeführt.
        Drei Taucher, die das erste Einsatzteam von
        insgesamt vier Personen bildeten, betraten
        eine der Überdruckkammern: der betroffene
        Taucher (Dc), Taucher 2 (D2) und Taucher
        3. Letzterer sollte später in der Taucherglo-
        cke (dem  Bootsmann) bleiben. Die Taucher
        wurden entsprechend dem Druck an ihrem
        Arbeitsort komprimiert. Aufgrund des hohen   Abb. 3: Arbeiten auf einer Ölplattform. Die Taucher werden von einer Taucherglocke aus versorgt,
        Heliumanteils von mehr als 90 Prozent  im   die wiederum von einem Taucherunterstützungsschiff versorgt wird (siehe Abbildung 2). Die Taucher
        Atemgas in den Überdruckkammern beginnt   werden von einem ferngesteuerten Fahrzeug (ROV) überwacht.
        die Stimme aufgrund von Resonanzverschie-  Nachdruck Copyright 2012 slideshare.net.
        bungen in den Stimmlöchern zu quietschen,
        was als Donald-Duck-Effekt bekannt ist. In
        diesen Kammern sollte der minimale Sauer-
        stoffpartialdruck (pO ) nicht unter 0,4 bar
                        2
        liegen, während er für das Bail-out-Gas ma-
        ximal 1,4 bar betragen sollte. Für eine Tiefe
        von 90 Meter befand sich also Heliox 96/14
        in den Bail-out-Flaschen.
        Die drei Taucher stiegen in die Taucher-  Abb. 2: Beispiele für Versorgungsleitungsquerschnitte. Es gibt verschiedene Versorgungsleitungen für
        glocke, die um 20.13 Uhr abgedockt wur-  unterschiedliche Zwecke. (A): Nabelschnur von der Taucherglocke zum Taucher (Ø: ~4,5 cm). (B): Nabel-
        de. Achtzehn Minuten später erreichten die   schnur vom Stützboot des Tauchers zur Taucherglocke (Durchmesser: ~6 cm).
        Taucher die geplante Tiefe, zehn Meter über   Nachdruck mit Genehmigung von Miller [4]. Urheberrecht 2021 Bay-Tech Industries
        ihrem Arbeitsplatz. Nach weiteren 15 Minu-
        ten verließen Dc und D2 die Glocke mit den
        Worten "Wir sehen uns in sechs Stunden",
        der Länge einer Schicht. Beide Taucher blie-  weiter abdriftete, wurde die Nabelschnur   Lichtern zu. In der Nähe des Helms waren
        ben über ihre 27 Meter langen Nabelschnü-  zu einer Ankerleine und riss schließlich ab   Blasen zu sehen. Nachdem die "Topaz" ihre
        re (Abb. 2) mit der Glocke verbunden. Drei   (22.13 Uhr). Von da an war Dc auf sich allein   Ausgangsposition erreicht hatte, verließ D2
        Minuten später begannen beide Taucher mit   gestellt. Er war von Atemgas, heißem Wasser   die Taucherglocke und tauchte zur Stahl-
        Wartungsarbeiten an Rohrstopfen und einer   zum Beheizen seines Anzugs, der Kommu-  konstruktion, die nur 18 Meter von der Glo-
        Stahlschablone. Während ihrer Arbeit wur-  nikation mit der "Topaz" und Licht getrennt   cke entfernt war. Er fand den inzwischen re-
        den sie von einem ferngesteuerten Fahrzeug   und damit orientierungslos. Er öffnete ein   gungslosen Dc und brachte ihn in die Glocke
        (ROV) überwacht (Abb. 3).           Ventil in seinem Helm, um sich Zugang zum   mit ihrer warmen Heliox-Atmosphäre.
        Nach etwa 20 Minuten stürzte der für das   Heliox-Vorrat zu verschaffen (zwei Flaschen;   Um 22.46 Uhr, etwa 33 Minuten nach dem
        DP-System zuständige Computer ab, und es   je 12 l; 300 bar).           Durchtrennen der Nabelschnur, wurde Dc
        wurde ein Alarm ausgelöst. Aufgrund des   Nur 20 Minuten später wurde der Computer   der Helm abgenommen. Er war bewusstlos,
        starken Windes und des hohen Seegangs be-  des DP-Systems erfolgreich neu gebootet und   sein Gesicht blau und seine Atmung langsam
        gann die "Topaz" von ihrer Position abzudrif-  funktionierte einwandfrei. In der Zwischen-  und flach. Nachdem D2 zwei tiefe Mund-zu-
        ten. Daher befahl der Bootsmann den beiden   zeit war die "Topaz" 240 Meter von ihrer frü-  Mund-Beatmungen durchgeführt hatte, nor-
        Tauchern, zur Taucherglocke  zurückzukeh-  heren Position abgetrieben. Das ROV fand   malisierte sich die Atmung von Dc physiolo-
        ren. D2 erreichte mit seiner Nabelschnur si-  Dc oben auf der Stahlkonstruktion liegend   gisch und die Vitalzeichen waren nach nur 18
        cher die Glocke, während Dc versuchte, ihr   (Foto-Einklinker im Aufmacher ist das Ori-  Minuten stabil.
        zu folgen. Seine Nabelschnur verfing sich   ginalfoto des ROV!).        Nachdem die Taucherglocke verriegelt war,
        jedoch an einem Teil der Stahlkonstruktion.   Die  Bilder bestätigten, dass Dc am Leben   wurde sie zum Versorgungsschiff hochgezo-
        Während die 8.000 Tonnen schwere "Topaz"   war, denn er winkte der Kamera und ihren   gen. Eine Stunde, nachdem Dc in die Glocke




      36 |   divemaster   #115
   31   32   33   34   35   36   37   38   39   40   41